Hintergrund

 

Vorbemerkung

Der folgende Text wurde bereits 2009 verfasst. Seither haben sich die Medikamente der antiretroviralen Kombinationstherapie (ART) deutlich verbessert. Die „neuen“ HIV-wirksamen Medikamente sind allgemein gut verträglich und nebenwirkungsarm. Die einmal tägliche Einnahme ist zum Standard geworden, der frühe Therapiebeginn (möglichst bald nach Diagnosestellung) zeigt vorbeugende Effekte vor Folgeerkrankungen der HIV-Infektion und bei nicht mehr nachweisbarer Virusbelastung kann die HIV-Infektion nicht übertragen werden. Einige der „alten“ Medikamente, die ab 1996 eingesetzt wurden, sind heute entweder gar nicht mehr verfügbar oder werden aufgrund ihrer Nebenwirkungen nur noch in Ausnahmefällen eingesetzt.

Trotzdem erfahren HIV-positive Menschen weiterhin Diskriminierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung. Dagegen möchten wir Thematisierung, Information und Inklusion stellen. Übertriebene Ängste und veraltete Vorstellungen über die Infektiosität und Übertragbarkeit der HIV-Infektion stellen weiterhin eine hohe Barriere dar. Insbesondere neue Ansätze in der Prävention – z.B. die Prä-Expositionsprophylaxe (PrEP) – stoßen auf Unverständnis und Ablehnung.

Informieren sie sich über neuere Entwicklungen in der HIV-Prävention. Sprechen Sie mit und nicht über HIV-Infizierte. Lassen Sie sich regelmäßig auf HIV testen, eine HIV-Infektion ist nicht lebensbedrohlich, wenn sie früh diagnostiziert wird. Die Medikamente sind gut verträglich und machen ein umfängliches und langes Leben mit der Infektion möglich.

Bitte betrachten Sie den folgenden Text als ein Dokument aus seiner Zeit.

Derzeit leben in Deutschland in etwa so viele Menschen mit einer HIV-Infektion, wie die Stadt Brandenburg Einwohner zählt. Durch die neuen Behandlungsmöglichkeiten und die pharmakologischen Entwicklungen der letzten Jahre ist die HIV-Infektion zur chronischen Infektion geworden. Viele HIV-Infizierte in den Metropolen können durch Medikamente das Virus an seiner Vermehrung hindern, wenn auch nicht gänzlich aus dem Körper entfernen. Einigen neueren Berechnungen zufolge können HIV-Infizierte mit Hilfe der antiretroviralen Medikation vielleicht sogar 30 Jahre und länger mit der Infektion leben. Eine Heilung ist trotz massiver Bemühungen nicht in Sicht. Was sich als kometenhafte medizinische Erfolgsstory liest, bedarf im Einzelfall allerdings einer genaueren Betrachtung, die persönliche Erfolgsgeschichte ist an Bedingungen geknüpft.

In dem Moment, wo sich Virus und Körperzelle begegnen, trifft das Virus nicht auf einen Patienten, sondern auf einen Menschen mit einer Geschichte und einem sozialen Kontext. Dabei sind die sozialen und psychischen Ausgangssituationen so unterschiedlich wie die medizinischen Krankheitsverläufe. Eine wirkliche Lebensperspektive mit entsprechender Lebensqualität erhält, wer in der Lage ist, die Medikamente trotz erheblicher Nebenwirkungen tagtäglich einzunehmen. Diejenigen, die nicht immer in stoischer Regelmäßigkeit ihre Medikamente einnehmen können oder deren Nebenwirkungen nicht aushalten, müssen bei unbeständiger Einnahme mit einer beschleunigten Resistenzentwicklung des Virus gegen die unterschiedlichen Substanzen rechnen. Wer sich nicht in der Lage sieht, eine chronische Erkrankung in sein (womöglich junges) Leben zu integrieren, verschleudert durch eine sporadische Medikamenteneinnahme seine Therapieoptionen und riskiert Nebenwirkungen ohne therapeutische Effekte.

Wer bereits in den 90er-Jahren mit der Einnahme der Medikamente begonnen hat, sieht sich heute womöglich mit einem deformierten Körper konfrontiert: Das Gesichtsfett, (was u. a. die individuelle Gesichtsphysiognomie ausmacht) ist reduziert, das Unterhautfett an Armen und Beinen ist verschwunden. Im unangenehmsten Falle bilden sich Fetthöcker im Nacken, das innerliche Bauchfett wächst an, verschiebt die Organe, bis das Atmen schwer fällt. Das sind letztlich nur die äußerlich sichtbaren Stigmata, ganz zu schweigen von der morgendlichen Übelkeit nach der Medikamenteneinnahme, den permanenten z. T. schweren Durchfällen, den Ausfällen der Berührungssensibilität der Beine, die ein sicheres Laufen stark beeinträchtigen. Trotz alledem stellt die antiretrovirale Therapie derzeit die wahrscheinlich einzige Option dar, dem natürlichen Krankheitsverlauf einer HIV-Infektion zu entgehen. Damit ist sie – trotz aller Wenn und Aber – ein Segen für die meisten HIV-Infizierten, die Zugang zu den Medikamenten haben.

Durch die im Rahmen der HIV-Infektion aufgetretenen Erkrankungen und die damit verbundenen längeren Krankenhausaufenthalte sind einige Infizierte sehr frühzeitig aus dem Lern- und Arbeitsprozess katapultiert worden. Wer dabei auch seine sozialen Bezüge verloren hat, lebt heute in einer desolaten Situation: ökonomisch, psychisch und sozial. Eine Re-Integration in den Arbeitsprozess scheint in vielen Fällen schwierig und die Bereitschaft dazu von Seiten der Arbeitgeber geringer geworden.

Medizinisch sind viele Infizierte hier in Berlin tatsächlich akzeptabel versorgt. Aber Medikamente vermögen nur das Virus an seiner Vermehrung hindern, sie sind nicht in der Lage, die Erfahrung von Ausgrenzung und Isolation rückgängig zu machen. Dort, wo das Virus bereits soziale Bezüge zerstört hat, hilft kein Medikamentencocktail, diese wieder zu kitten. So verwundert es nicht, dass die Autorin einer in England durchgeführten Studie feststellen muss, dass trotz der medizinischen Entwicklung und der Einführung neuer Medikamente mehr als 30 Prozent HIV-Infizierter Patienten Suizidgedanken äußern. Diese Befragung wurde 2005/2006 unter 750 HIV-infizierten Patienten an fünf Londoner HIV-Ambulanzen durchgeführt. Eine alarmierend hohe Zahl, die nahe legt, dass die medizinische Versorgung alleine die psychosozialen Komponenten nicht ausreichend positiv beeinflusst.

Trotz medizinischer Entwicklungen bietet eine Erkrankung, deren Verbreitung an Sexualität geknüpft ist, auch weiterhin die Möglichkeit zur Skandalisierung und Stigmatisierung. Sich immer wieder erklären zu müssen, ist einer Kommunikation nur wenig förderlich. Zumal derjenige, der über seine Erkrankung spricht, in der Regel mehr über sich preisgeben muss, als das Gegenüber bereit ist zu offenbaren. Eine ungleiche Ausgangssituation für einen Dialog.

Beispielhaft steht dafür das mediale HIV-Outing und die Vorverurteilung einer Popsängerin im Jahr 2009, die vorsätzlich ihre HIV-Infektion verschwiegen und so ihren Sexualpartner angesteckt haben soll. Als Entrée für die Presse inszenierte die Staatsanwaltschaft eine spektakuläre Verhaftung. In der darauf folgenden medialen Debatte wurde nicht die Risikobereitschaft des männlichen Sexualpartners thematisiert, sondern das Verschweigen des Immunstatus der Popsängerin wurde als vorsätzliche Körperverletzung (wenn nicht gar Tötungsversuch) gewertet. Faktisch ist dies eine Bekenntnisforderung an HIV-Infizierte.

Ironischerweise war mit dem medizinischen Durchbruch, der gesellschaftliche Rückzug aus der öffentlichen Diskussion verbunden. Das Leben mit HIV/Aids erscheint nicht mehr als soziale Realität und stößt auf wenig mediales Interesse. HIV/Aids scheint umgezogen zu sein und findet jetzt als Desaster im weit entfernten Afrika statt. Es ist wohl zu wenig gelungen die sozial- und gesellschaftspolitischen Aspekte einer HIV-Infektion zu thematisieren. Durch den medizinischen Erfolg verwöhnt, müssen die zutage tretenden Fragen nach dem Umgang einer Gesellschaft mit Sexualität, Krankheit und Isolation (um hier nur einige Aspekte zu nennen), derzeit die Betroffenen allein beantworten.

Nach 25 Jahren HI-Virus ist auch die Primärprävention in der Krise. Die Kondomisierung der Gesellschaft ist an ihre Grenzen gestoßen. Bei stagnierender Zahl an Neuinfektionen wurde die mediale Botschaft verstanden, HIV/Aids ist beherrschbar: Das bisschen Pillen einnehmen kann so schlimm nicht sein. Eine Lebensplanung mit HIV/Aids ist für jeden Infizierten möglich, suggeriert uns die Berichterstattung.

Freuen wir uns mit den HIV-Infizierten, für die dies zutrifft. Hören wir aber auch denen zu, die etwas anderes zu sagen haben!